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"Sternenreise"

 

 

Der Junge öffnete das Fenster und schaute hinaus. Eine lauwarme Brise streichelte sanft über sein Haar wie die Hand eines Engels. Als er den Blick hob, sah er am wolkenlosen Nachthimmel Tausende und Abertausende Sterne funkeln. Wie kleine Engelstränen blickten sie auf ihn hinab und erhellten die Spuren, die seine eigenen Tränen auf seinen Wangen hinterlassen hatten.

Der Junge war traurig. In ihm wohnte eine so tiefe Traurigkeit und das ungewisse Gefühl, dass bald etwas ganz und gar Unglaubliches passieren würde. Seltsamerweise tröstete ihn der Anblick der Sterne, den er jedesmal suchte, wenn er in dieser Stimmung war. Selten hatte er sie so klar gesehen wie in dieser Nacht.

„Malik?“ Durch den Spalt der angelehnten Zimmertür drang die Stimme seiner Mutter. „Es ist gleich Zeit für deine Medizin, okay?“ Der Junge verdrehte die Augen. Wie er das satt hatte. Jeden Abend die gleiche Prozedur und richtig helfen tat es schon lange nicht mehr.

Also blieb er weiter am Fenster stehen, so gut er konnte und verlor sich im Anblick der Sterne. Während Malik so empor schaute, war ihm, als begönne er plötzlich selbst zu schweben und den Sternen immer näher zu kommen. Schwerelos glitt er hinauf, höher und höher den geheimnisvollen Lichtern entgegen. Still war es hier oben – wunderbar still. Alle Ängste, alle Verzweiflung blieben unter ihm zurück und sein Herz füllte sich mit Hoffnung und Vorfreude. Worauf? Wenn er das bloß wüsste… Aber eigenartigerweise war es ihm in diesem Augenblick völlig gleichgültig. Er genoss den Moment und schloss die Augen.

Wie lange er so durch das Nichts trieb konnte Malik nicht sagen. Waren es Sekunden… oder Stunden? Plötzlich spürte er etwas unter seinen Füßen und öffnete die Augen. Grelles Licht blendete ihn und er musste mehrmals blinzeln, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Was er nun sah, verschlug ihm den Atem: Über ihm erstreckte sich der blaueste Himmel, den er jemals gesehen hatte. Das Blau war so intensiv, dass man es direkt fühlen konnte. Und es fühlte sich wundervoll an, umhüllte ihn wie die Umarmung eines geliebten Menschen. Warmes Sonnenlicht überflutete eine herrliche Landschaft mit grünen Wiesen und saftigen Bäumen. In der Ferne war das Glucksen eines Bachlaufes zu hören.

Während Malik sich noch völlig überwältigt umschaute, drangen Stimmen an sein Ohr. Leise vernahm er ausgelassenes Lachen und freudige Juchzer, die ihn wie magisch anzogen. Ohne es zu wollen, bewegte er sich in die Richtung, aus der die Rufe kamen. Vorbei an bunten Blumen, auf denen dicke Hummeln brummten und schlanken Gräsern, die geschäftigen Ameisen als Steg dienten, führte sein Weg weiter in einen kleinen Hain. Dort, auf der Lichtung, sah er sie: eine Gruppe von Kindern – Jungs und Mädchen – spielten miteinander fangen.

Als die Kinder ihn sahen winkten sie ihm lachend zu, als forderten sie ihn auf, mitzuspielen und ehe er sichs versah, lief er zu ihnen. Leicht und schnell trugen ihn seine Füße und das kam ihm sehr merkwürdig vor, hatten sie dies doch schon seit langer Zeit nicht mehr getan. Zuletzt hatte er fast gar nicht mehr laufen können und fast die ganze Zeit liegen müssen. Umso mehr genoss er nun seine neue Leichtfüßigkeit. Ganz selbstverständlich fügte er sich in die Gruppe und ihr Spiel ein – ganz so, als würde er schon immer dazugehören.

Nach einer Weile kam Malik dann doch aus der Puste und er stützte seine Hände auf den Oberschenkeln ab, um wieder zu Atem zu kommen – als sich eine kleine Hand auf seinen Rücken legte. Der Junge fuhr herum und blickte in zwei freundliche, braune Augen, die ihm aufmunternd zuzwinkerten...

 

 

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